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Donnerstag, 23. Februar 2012

Blick in die Zukunft

Von Dr. med. Sibylle Mottl-Link

Als Kind wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eine Wahrsagerin zu sein. Zu Fasching verkleidete ich mich als Zigeunerin und schleppte eine unhandliche Glaskugel mit mir herum. Immer wieder stellte ich meine hellseherischen Fähigkeiten auf die Probe. Zunächst suchte ich die Zukunft in unserem Goldfisch-Aquarium, in den Resten unseres Grillhähnchens, in Spielkarten oder in der Kaffeetasse meiner Großmutter. Doch ich fand nur Unsinn.
Endlich bei einem Griechenlandurlaub witterte ich meine große Chance. In Delphi setzte ich mich auf den berühmten Sibyllen-Felsen, auf dem alle weisen Frauen vor Urzeiten gethront hatten. Die gleißende Sonne brannte auf meinen Kopf und mein Versuch, ein Orakel zu fabulieren, endete im Krankenhaus: Verdacht auf Sonnenstich.

Bild: Rainer Sturm  / pixelio.de
Diesen Traum, in die Zukunft zu blicken, hatte ich schon lange aufgegeben, als ich im Park spazieren gehe. Ich mache es mir gerade auf einer Bank mit Blick auf einen kleinen Ententeich gemütlich, als mich ein Ball am Kopf trifft.
„Jetzt geh und entschuldige dich bei der Dame!" befiehlt eine freundliche, etwas müde Stimme. Doch der kleine Ballwerfer traut sich nicht. Er legt sein Kinn auf die Brust und schielt verstohlen zu mir hoch. Schnell dreht er sich um und ist schon wieder kreischend und tobend verschwunden. Langsam und verärgert schüttele ich meinen Kopf.
„Sie müssen entschuldigen!“ meint seine Mutter, als sie sich zu mir auf die Bank setzt.
„Tja,“ antworte ich etwas genervt. „Ihr Kleiner ist wohl etwas wild.“
Eigentlich finde ich, ist es die Aufgabe einer Mutter, ihren Wildfang im Zaum zu halten. Kinder sollen artig sein, aufs Wort gehorchen, und vor allem unsichtbar und unhörbar sein.
Diese anstrengende Nervensäge hat jedoch die geballte Energie einer Atombombe und das zerstörende Potential einer Naturkatastrophe. Eine Zumutung für unsere Zivilisation! Ich beobachte, wie er die Vögel verjagt, mit dem Stock in einem Erdloch wühlt und anschließend aus lauter Übermut zwei Rentnerinnen zwischen die Füße stürzt.
Als ich mißbilligend meine Lippen spitze, höre ich die Frau neben mir seufzen.
„Es ist nicht leicht, wissen Sie?! Mit drei Kindern!“
Nur mit Mühe gelingt es mir, meine Gleichmut zu bewahren. Diese Mitleidstour ist unzumutbar! Eltern sind meiner Meinung nach die unfähigsten Kreaturen auf diesem Planeten! Unfaßbar und dumm finde ich sie! Wenn man keinen Nachwuchs möchte, gibt es genügend medizinische Möglichkeiten ihn zu verhindern. Oder etwa nicht?! Es liegt doch an einem selbst, wie man sich entscheidet. Wer sich Kinder gewünscht hat, verwirkt damit das Recht, über sie zu jammern.
Doch ich will nicht unhöflich sein, und frage scheinbar gut gelaunt: „Oh, Sie haben noch zwei von dieser Sorte?“
Bild: Günter Havlena  / pixelio.de
Die arme Frau, denke ich. Kein Wunder, sieht sie aus, als wäre sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs! Ich muß mir eingestehen, daß ich sogar von nur einem störenden Subjekt hoffnungslos überfordert wäre. Wir beobachten eine Weile die Entenküken im Teich, die sich panisch schnatternd vor dem kleinen Wilden in Sicherheit bringen.

Als mich ihre Wortlosigkeit unruhig macht, wende ich der fremden Frau an meiner Seite mein Gesicht zu. „Die anderen beiden sind im Krankenhaus ... .“ flüstert sie fast tonlos.
Ich bereue es schon jetzt, ihr meine Anteilnahme vorgespielt zu haben, doch es gibt kein Zurück. Schwerfällig stelle ich mich auf eine distanzlose Konversation ein und versuche ein aufmunterndes Lächeln in der Hoffnung, so den Dialog zu verkürzen. Also gut! Dann höre ich eben zu. Diese Frau macht sich Sorgen. Das ist schließlich auch der Job einer Mutter. Sich sorgen, besorgt sein, umsorgen! Artig erwidere ich:
„Ach, das wird schon wieder! Ist es der Blinddarm oder die Mandeln?“
Ihr seltsam leerer Blick klammert sich an ihrem kleinen Sohn fest. Unangenehm berührt rutsche ich etwas auf der Sitzfläche herum. So viel Nähe ist mir peinlich. Ich beobachte den kleinen Jungen, dessen körperliche Energie unerschöpflich scheint. So hyperaktiv wie dieses jüngste Exemplar der Familie wirkt, werden seine älteren Brüder wohl einen Verkehrsunfall erlitten haben. Bei diesem ständigen Gezappel wäre das nicht verwunderlich. Wie unerfreulich! Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Doch ein unbekanntes Wort unterbricht meine Vermutungen und gleitet wie eine unheilvolle Zauberformel über ihre Lippen: „Muskeldystrophie!“ Ihre Stimme klingt jetzt fast so mechanisch wie die Telefonansage des Wetters. „Diese seltene Erbkrankheit kommt nur bei Jungen zum Ausbruch. Ganz langsam werden alle Muskeln lahm. Zuerst die Beine und dann immer weiter hoch bis schließlich auch die Atemmuskeln aussetzen. Und dann ist es aus. Es gibt nichts, das diesen Verlauf stoppen könnte. Kein Medikament! Kein Gebet! Nichts!“
Meine Nackenhaare sträuben sich, als die Schallwellen mit dieser grausamen Information über das Innenohr in mein Bewußtsein dringen. Ich will mir die Ohren zuhalten, doch es ist zu spät.
„Mein ältester ...“ erzählt meine Sitznachbarin. „.. kann nur noch auf dem Rücken liegen. Die Ärzte sagen, etwa zwei Wochen noch. Der zweite ist ganz stolz auf seinen elektrisch lenkbaren Rollstuhl. Den müßten Sie mal sehen, wie geschickt der damit rumflitzt!“
Ihr sanftes Gesicht glüht vor elterlichem Stolz, als sie sich mir zuwendet.
In diesem Augenblick trifft mich der Ball wieder mit voller Wucht. Ich springe rasch auf und haste der Kugel hinterher, damit sie nicht ins Teichwasser kullert. Als ich mich umdrehe, blicke ich direkt in die unschuldigen Augen des süßen Kerlchens, der mich erwartungsvoll ansieht. Er streckt mir die kleinen Ärmchen entgegen, mit denen er seinen Ball fangen möchte.

Und plötzlich ist alles so, wie ich es in meiner Kindheit erträumte. Ich halte den Ball zwischen meinen Fingerkuppen wie eine Hellseherin ihre Kugel. Und endlich sehe ich in die Zukunft. Die Zukunft dieses niedlichen, lebhaften Jungen! Die Bilder laufen in meinem Kopfkino ab wie im Zeitraffer. Seine Muskeln werden lahm. Erst die Beine, dann immer weiter hoch und schließlich die Atemmuskeln. Und dann ist es aus. Und es gibt nichts, was helfen könnte.
Ich lächele tapfer, als ich meinem kleinen Spielkameraden das Ersehnte zuwerfe.
Erschrocken fragt der Kleine: „Warum weinst du?“

„Blick in die Zukunft! Na, los!“ verhöhnt mich meine innere Stimme. „Das wolltest du doch immer, nicht wahr?! Einen Blick in die Zukunft!“
Eilig wische ich mir die Tränen aus den Augen und antworte dem süssen, kleinen Engel: „Ich schaue in die Zukunft!“
„Ach, so!“ sagt der Kleine und wendet sich auch schon von mir ab. Es interessiert ihn gar nicht, wessen Zukunft ich gesehen habe. Und es interessiert ihn noch weniger, was ich gesehen habe. Vielleicht will er sie auch gar nicht kennen - seine Zukunft! Wäre ja verständlich. Der Arme!
Doch mitten in meinem Mitleid halte ich inne, denn mit einem Schlag wird mir bewusst, dass es nicht nur seine Zukunft ist und auch nicht nur die seiner Brüder, die ich geschaut habe. Nein, es ist auch meine eigene und auch unser aller Zukunft! Unser aller Schicksal – jedenfalls medizinisch betrachtet: Die Muskeln werden lahm. Erst die Beine und dann hoch bis schließlich auch die Atemmuskeln betroffen sind. Und dann gibt es nichts mehr, was helfen würde. Gar nichts. Dieser Prozess spielt sich bei jedem von uns zu einem anderen Zeitpunkt ab – beim einen schon in der Kindheit, beim nächsten erst, wenn er ein Greis ist. Beim einen geht es innerhalb von Sekunden, beim anderen ist der Verlauf über mehrere Jahre gestreckt. Doch die Zukunft selbst - sie ist für uns alle gleich. Ganz gleich.
Diese Erkenntnis drückt mich erstaunlicher Weise nicht zu Boden. Anstatt mich völlig zu deprimieren, machen mich diese Gedanken federleicht und schwerelos. So wundere ich mich auch gar nicht, dass ich wie auf einem Luftkissenpolster schwebe, als ich aufstehe.
Das Wetter ist wunderschön, die Natur um uns herum vibriert, mein Herz pocht, mein Atem macht es sich in meinem Brustkorb gemütlich und mein Gesicht strahlt mit der Sonne um die Wette. Es ist schön zu leben!
Wer will da schon einen Blick in die Zukunft?!

Bild: Albrecht E. Arnold  / pixelio.de
Ich lache über meine eigene Dummheit.
In meinen Beinen zuckt es und ich laufe, springe und tanze im Kreis. 
 Mein kleiner Freund hält inne und beobachtet mich verwundert:
„Warum freust du dich so sehr?!“ fragt er neugierig. Prustend antworte ich: „Weil wir leben!“

Und dann habe ich genug vom Nachdenken und brülle übermütig:
„Wer als erstes bei der Schaukel ist!“





Dr. med. Sibylle Mottl-Link
Die in Heilbronn geborene Ärztin ist Kinderbuchautorin von “Frau Doktor hat einen Vogel – Gesundmachgeschichten für Kinder” (erschienen im Bildungsverlag Eins 2011), zweifache Mutter und Amtsärztin im kinder- und jugendärztlichen Dienst der Stadt Mannheim.

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